Sonntag, 30. Oktober 2016

Gedanken am 31. Oktober (Herbstmond)


Das amerikanische Halloween ist ein Übergangstag, der die Hälfte des Weges vom Herbstäquinoktium zur Wintersonnenwende markiert. Die Erdströmungen reissen uns weiter mit sich fort, einwärts, durch die Pforte des Todes in den Schoss, in dem die Weisheit heranreift. Einmal nahm ich an einem einwöchigen Heilkurs teil, im Rahmen dessen wir uns auf einen Friedhof begaben und nach einem Grabstein suchten, den wir uns als den unsrigen vorstellen konnten. Dies verlieh unserer Lebensrückschau einen schmerzlichen Charakter und verstärkte dadurch den Wunsch, uns zu ändern. Manche buddhistische Meditationen werden gleichfalls auf Friedhöfen (bzw. Verbrennungsstätten) durchgeführt, wo dem Übenden die Realität der Unbeständigkeit allen Seins unmittelbar vor Augen geführt und seine Motivation verstärkt wird, achtsam zu bleiben, Güte zu üben und aufzuwachen!

Gedanken am 30. Oktober (Weinmond)


Im alten Griechenland gab es einen berühmten, dem Gott Asklepios geweihten Heiltempel. Am Ende der Behandlung wurde der Patient zu zwei Quellen geführt. Die erste hiess Lethe, wie der mythische Unterweltfluss, dessen Wasser die Totengeister die Welt der Lebenden vergessen lässt. Ein Trunk aus dieser Quelle sollte den geheilten helfen, ungesunde geistige Angewohnheiten hinter sich zu lassen. Die zweite Quelle hiess Mnemosyne oder „Erinnerung“: Ihr Wasser half dem Gläubigen, sich neue, positive Gewohnheiten anzueignen, indem er sich an die im Tempel gewonnenen Einsichten erinnert sowie daran, sie im täglichen Leben in die Praxis umzusetzen.

Gedanken am 29. Oktober (Weinmond)


Eine starke Motivation hilft uns, sowohl gute Angewohnheiten aufrechtzuerhalten als auch schlechte abzulegen. Meditieren ist eine gute Angewohnheit, da es den Geist schult und uns hilft, die Wolken der Negativität und der Illusion, die die Sonne unserer wahren Natur verfinstern, zu zerreissen. Nichtdestoweniger ist es eine Angewohnheit, die ständiger bewusster Pflege bedarf, wenn sie nicht verlorengehen soll. Ein Freund von mir witzelte einmal, das einzige, was er Gott übelnehme, sei, dass schlechte Angewohnheiten so schwer abzulegen und gute so schwer zu erwerben sind. Dem Buddha war das auch schon bewusst, und deswegen empfahl er uns, unsere Motivation, täglich zu meditieren, dadurch regelmässig „aufzufrischen“, dass wir uns vier Gedanken über das Leben immer wieder vor Augen führen.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Gedanken am 28. Oktober (Weinmond)


Die alte asiatische Methode zur Zügelung des Geistes ähneln durchaus der modernen kognitiven Verhaltungstherapie. Wir beobachten unsere Denkmuster und nehmen auf der Grundlage dieser Beobachtungen nach und nach Änderungen vor. Aber damit die moderne Therapie oder die traditionellen Praktiken einen Erfolg zeitigen können, muss unsere Motivation über längere Zeit stark bleiben. Die grundlegende psychologische Motivation, die alle Menschen gemeinsam haben, ist der Wunsch, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden. Sobald wir erkannt haben, wieviel Leid ausschliesslich durch unseren Geist verursacht wird, sind wir motiviert, ihn zu verändern. Wenn ausserdem noch der starke Wunsch hinzukommt, anderen Gutes zu tun, werden unsere guten Absichten zu äusserst wirksamen „Motivatoren“ der Veränderung.

Gedanken am 27. Oktober (Weinmond)


Der US Psychiater und Sachbuchautor Jerry Jampolsky stellt uns die Frage: "Möchtest du lieber glücklich - oder im Recht sein?" Ich arbeite schon seit einiger Zeit daran, die erste Möglichkeit zu wählen. Vor mehreren Jahren war ich mit meinem Partner im Auto unterwegs zu Freunden, die uns zum Essen erwarten. Mein Partner bog an einer Stelle links ab, obwohl ich genau wusste, dass wir, wären wir rechts abgebogen, fünf Minuten eher angekommen wären. Ich sagte es ihm, und als er nicht umkehrte, sagte ich es noch einmal. Er antwortete: "Es ist ein wunderschöner Abend, geniesse die Fahrt. Die paar Minuten spielen doch keine Rolle." Ich versteigte mich aber innerlich so darauf, "recht zu haben", dass ich erst anfing, die Fahrt auch nur ansatzweise zu geniessen, als sie praktisch schon zu Ende war.

Gedanken am 26. Oktober (Weinmond)


Zu der Zeit, als ich an diesem Kapitel schrieb, fuhr ich einmal zum Einkaufen in die nächste Stadt. Ein paar Stunden später hatte ich alles mögliche erledigt war ziemlich gerädert und fing an mir auszumalen, wie ich, wieder zu Hause angelangt, einen schönen Spaziergang in den Bergen machen würde. Als es Zeit gewesen wäre, nach rechts auf den Supermarkt- Parkplatz einzubiegen, merkte ich, dass ich mich auf der falschen Spur befand. Ich blinkte, aber der Fahrer zu meiner Rechten wollte mich nicht vorbeilassen. Prompt wallte Ärger in mir auf - aus reiner Gewohnheit. Dann wurde ich mir dessen bewusst und lachte. Schliesslich war es meine eigene Schuld: Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen und hatte es versäumt, mich rechtzeitig einzuordnen. Niemand ausser mir war für mein "Problem" verantwortlich. Ich konnte mich frei zwischen Frieden und Ärger entscheiden. Wenigstens zu dieser einen Gelegenheit wählte ich den Frieden.

Montag, 24. Oktober 2016

Gedanken am 25. Oktober (Weinmond)


Der ungeschulte Geist ist in Wirklichkeit sehr geübt in den Techniken des Samsara, den typischen Denkprozessen der Angst und Trennung, die uns in einem endlosen Kreislauf des Leidens gefangen halten. Der tibetische Lama Sogyal Rinpoche schreibt darüber in seinem hervorragenden Werk "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben": "Wir haben durch den Samsara schon alles gelernt, was wir für dem Samsara benötigen, haben gelernt, eifersüchtig zu werden, haben gelernt, uns anzuklammern, haben gelernt, ängstlich und traurig und verzweifelt und habgierig zu sein, haben gelernt, auf alles, was uns provoziert zornig zu reagieren. Wir sind tatsächlich so sehr darin geübt, dass diese negativen Emotionen spontan entstehen, ohne dass wir auch nur versuchen würden, sie zu erzeugen. Also ist alles nur eine Frage der Übung und der Macht der Gewohnheit."

Gedanken am 24. Oktober (Weinmond)


Der Dalai Lama weist darauf hin, dass sogar wilde Tiere gezähmt werden können, also müsse dies bei unseren Geist gleichfalls möglich sein. Er sagt: "Wenn jemand, der leicht zornig wird, versucht, seinen Zorn zu zügeln, kann dieser mit der Zeit unter Kontrolle gebracht werden. Das gleiche gilt für einen sehr selbstsüchtigen Menschen: Zuerst muss er die Nachteile einer selbstsüchtigen Einstellung einsehen und die Vorteile, die es bringt, weniger egoistisch zu sein. Hat er dies erst einmal erkannt, übt er sich darin, die schlechte Seite unter Kontrolle zu bringen und die gute zu entwickeln. Auf die Dauer kann solch eine Übung sehr wirkungsvoll sein. Das ist die einzige Alternative."

Samstag, 22. Oktober 2016

Gedanken am 23. Oktober (Weinmond)


Wir haben die "Kultivierung der Tugend durch wohlwollende Güte" und "Nichtverletzten" als zwei der drei grundlegenden Leitlinien betrachtet, um spirituelle Reife zu erlangen. Die dritte Leitlinie ist die "Zähmung des Geistes". In der asiatischen Meditationsliteratur wird der Geist häufig als eine Affe bezeichnet, der wie verrückt von Ast zu Ast springt. Vielleicht ist dir während der Meditation der "Affencharakter" des Geistes schon aufgefallen. Er kann in weniger als einer Minute von Gebet zu Supermarkt, unerledigte Telefonaten, beruflichen Problemen, Tapetenmustern, Sorgen über einen geliebten Menschen und achtsamen Gewahren springen. Bis er gezügelt wird, ist der Geist tatsächlich so gelenkig und so rastlos wie ein Affe.

Freitag, 21. Oktober 2016

Gedanken am 22. Oktober (Weinmond)


Wenn unsere alten Wunden nicht geheilt sind, ehe wir daran gehen, unseren Geist zu zähmen, werden die Gefühlsmonster unentwegt an der Kellertür scharren, während wir uns mit bemühtem Lächeln von der anderen Seite dagegenstemmen. Dies heisst, Gefühle verdrängen, nicht, sie auf dem Weg des "Yoga der Gefühle" transformieren. Wenn Leute die "spirituelle Umgehungsstrasse" zur emotionalen Heilung wählen, bleibt dies in der Regel unvollständig und dazu auch noch unbefriedigend. Wir können alte Gefühle nicht einfach "wegwünschen", ebensowenig aber spirituelle Übungen zu deren Überwindung durchführen, solange wir nicht eine heilende Geschichte gewoben haben, die unsere bisherigen Erfahrungen transformiert und allem Schmerz, den wir erlitten haben mögen, Sinn verleiht.

Donnerstag, 20. Oktober 2016

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Gedanken am 21. Oktober (Weinmond)


Ich nahm einmal an einem Wochenend- Workshop mit einem einem bekannten Psychologen teil. Eine der Anwesenden, ein Psychologe, fing an, sich darüber zu verbreiten, wie er sein inneres Kind wiederentdeckt und getröstet habe und nun täglich mit ihm spielt. Irgendwann brüllte der Vortragende dazwischen: "Na schön, dann ist es ja wohl langsam an der Zeit, den kleinen Scheisser zu begraben, oder?" Das brachte den Psychologen und einige andere ganz schön auf die Palme. Aber wenn ich den Vortragenden richtig verstanden habe, wollte er damit sagen, dass es nicht genug ist, unsere Wunden zu heilen: Wir müssen sie anschliessend transzentieren. Heranwachsen bedeutet letztlich, dass das innere Kind stirbt und ein emotional reifer Erwachsener geboren wird.

Mittwoch, 19. Oktober 2016

Gedanken am 20. Oktober (Weinmond)


Mehrere meiner Vorträge handeln davon, wie wir die seelischen Wunden, die wir in der Kindheit davongetragen haben, heilen können. Ist diese Heilung erst gelungen, fällt es uns leichter, Gefühle auf eine nichtverletzende Art auszudrücken. Aber bis es soweit ist, sind wir wie Kleinkinder, die es nicht ertragen, nicht immer im Mittelpunkt der allgemeinen bewundernden Aufmerksamkeit zu stehen. Wir brauchen die Gewissheit, selbst dann noch geliebt zu werden, wenn wir Mami sagen, sie sei so fies, dass wir froh wären, wenn sie tot umfiele. Solang wir klein sind, sind unsere Gefühle wirklich heilige Kühe. Aber wenn unsere kindlichen Regungen geachtet werden, wachsen wir in der Geborgenheit des Wissens auf, dass Gefühle nicht die absolute Wahrheit sind. Sie sind Reaktionen auf die Welt, die uns wertvolle Lehren vermitteln können.

Gedanken am 19. Oktober (Weinmond)


Es gibt einen weitverbreiteten Mythos, der von sogenannten guten und schlechten Gefühlen handelt. "Gute" Emotionen wie Liebe, Freude und Frieden gelten als Tugend. "Schlechte" Gefühle wie Zorn, Eifersucht und Traurigkeit gelten als Laster. Dies ist ein weiteres Beispiel für den kindlichen Irrglauben, Gut und Böse seien deutlich erkannbare Gegebenheiten, wie verschiedenfarbige Kieselsteine. Wenn wir nie Zorn verspürt hätten, hätten wir auch kaum ein Gefühl dafür entwickeln können, wann unsere Grenzen verletzt werden und wir uns in acht nehmen und möglicherweise bestimmte Konsequenzen ziehen sollten. Hätten wir nie die Qualen der Eifersucht erlitten, hätten wir nur wenig Grund, die Fähigkeit in uns zu kultivieren, uns über das Glück anderer zu freuen. Wenn die Wahrnehmung der Unbeständigkeit aller Dinge uns nicht traurig machte, hätten wir keine Veranlassung, uns auf die Suche nach dem Heimweg zu Gott zu machen. Gefühle gehören zu unseren wertvollsten Lehrmeistern, solange wir nicht versuchen, sie zu Rechtfertigung unseres Standpunkt zu gebrauchen.

Montag, 17. Oktober 2016

Gedanken am 18. Oktober (Weinmond)


Ehrlichkeit ist, ebenso wie Geduld und Toleranz, eine oft missverstandene Tugend. Wir reden davon, "unsere Gefühle ehrlich zu äussern". Ich könnte mir sehr gut einen Film mit Woody Allen über dieses Thema vorstellen. In einer Szene könnte er sich etwa ausmalen, wie er auf der Strasse auf eine Frau zugeht, deren mürrischer Ausdruck ihn an seine strenge Mutter erinnert, und sie anpflaumt: "Stell diese idiotische Grimasse ab, du miese alte Hexe! Ist die nicht klar, dass du mir den ganzen Tag versaust?" Das heisst in der Pop- Kultur "seine Gefühle ehrlich äussern". Die Vorstellung, unsere Gefühle seien etwas wie eine heilige Kuh, die eine besonders rücksichtsvolle Behandlung verdient, ist eine der peinlichsten Schöpfungen der Selbsthilfebewegung.

Gedanken am 17. Oktober (Weinmond)


Toleranz ist eine Tugend, die ebensooft missverstanden wird wie die Geduld. Darüber, dass das, was die meisten Leute Geduld nennen, in Wirklichkeit bis zum äussersten gespannte Ungeduld ist, haben wir bereits im März gesprochen. Analog dazu verstehen wir unter Toleranz im allgemeinen, uns höflich zu verkneifen, irgendwelche armen Ignoranten an unserer höheren Einsicht teilhaben zu lassen. Echte Toleranz hat aber eher etwas mit der weisen Empfehlung der amerikanischen Ureinwohner zu tun, ehe wir einen anderen beurteilen "tausend Meilen in seinen Mokassins zu gehen". Bis wir die hinter uns gebracht haben, sind wir bestimmt zu müde, ein Urteil zu fällen. Und wenn wir dann doch noch in der Laune sein sollten, Kommentare über die Lebensweise des anderen abzugeben, dann werden wir dies aller Wahrscheinlichkeit nach mit mehr Wohlwollen und Güte tun, als es nach einer flüchtigen Betrachtung der Fall gewesen wäre.

Samstag, 15. Oktober 2016

Gedanken am 16.Oktober (Weinmond)


"Verletze nicht." Was ist mit Tierversuchen? Sie erscheinen wie eine unglaubliche Grausamkeit, wenn es darum geht, ein neues Haarspray zu testen. Sie erscheinen wie ein notwendiges Übel, wenn es darum geht, einen Impfstoff gegen AIDS zu entwickeln. Das Universum zieht selten eine klare, eindeutige Grenze zwischen Gut und Böse. Wofür wir uns in jedem Einzelfall auch entscheiden, ein Konflikt ist vorprogrammiert. Wie können wir da NICHT VERLETZEN?

Gedanken am 15. Oktober (Weinmond)


"Verletze nicht" In meinem Kleiderschrank hängt ein Waschbärmantel. Der Schaden ist schon geschehen. Die Waschbären sind tot. Ich habe den Ratschlag verworfen, den Pelzmantel zu begraben, weil dies das Opfer der Tiere sinnlos gemacht hätte, ihr Geschenk zu missachten. Also blieb der Mantel mehrere Jahre lang im Schrank hängen - als Symbol meines Kneifens vor einer Entscheidung. Schliesslich entschloss ich mich, ihn zu tragen. Bei unserem allerersten Spaziergang trat eine Freundin an mich und die Waschbären heran. Sie wies darauf hin, wer Pelze trage, übermittle anderen die Botschaft, es sei völlig in Ordnung, dies zu tun. Also werden sich noch mehr Tiere die Beine abnagen müssen um sich aus Fangeisen zu befreien. Den Ausweg aus diesem Dilemma lieferten mir ukrainische Freunde. Für einen schönen Pelzmantel kann man sich drüben eine ganze Wohnung kaufen. Also zogen die Waschbären nach Kiew um.

Gedanken am 14. Oktober (Weinmond)


Jetzt, da wir uns ein paar Tage lang Gedanken über die Kultivierung der Tugend gemacht haben, sind wir bereit für deren natürliche Folge, für ein Handeln, das "nicht verletzt". Auch wenn nichtverletzendes Handeln die selbstverständige Folge wohlwollender Güte zu sein scheint, ist das Leben voller Konfliktsituationen. Genau dadurch, dass wir in solche Situationen gebracht werden und Gut und Böse nach besten Vermögen aussöhnen, wächst unsere Seele. Was ist beispielsweise mit den fanatischen Abtreibungsgegnern, die mit lautersten Absichten Frauen seelische und vielleicht sogar physische Gewalt antun? Auch wenn sie ihr Verhalten damit rationalisieren können, dass ihre jetztige Gewalttätigkeit in den USA später Babys das Leben retten wird, sind sie ausserstande, ihren Kurs zu verfolgen und "nicht zu verletzen".

Donnerstag, 13. Oktober 2016

Gedanken am 13. Oktober (Weinmond)


Die Kultivierung der Tugend durch wohlwollende Güte ist zugleich ein selbstloser und - wie der Dalai Lama es nennt -"weiser eigennütziger" Vorgang. Dies hat einen sehr einfachen Grund. Jede Tat löst eine Reaktion aus, daher müssen wir die Auswirkungen all unserer Handlungen akzeptieren und tragen. Im Hinduismus, Buddhismuss und anderen asiatischen Religionen nennt man dies das Gesetz des karma. Auf hebräisch spricht man von sekhar veonesh. Die unmittelbare Auswirkung einer freundlichen Tat ist, dass es uns glücklich macht, sie zu vollbringen. Die langfristigen Auswirkungen von Freundlichkeit und Güte reichen so weit wie die Zeit selbst, da sie von Generation zu Generation weitergereicht werden.

Gedanken am 12. Oktober (Weinmond)


Die religiösen Institutionen täten freilich nicht schlecht daran, die Pflege der Tugend als Massstab ihres Erfolges zu betrachten. Karen Armstrong, die Verfasserin des hervorragenden Buches "A History of God", kritisierte in einem in der Zeitschrift Time veröffentlichten Interview die modernen religiösen Institutionen. Sie sagte: "Nur das westliche Christentum macht ein solches Tamtam um Dogmen und Glaubenssätze. Die Echtheit einer Religion kann ich nicht daran testen, was ich GLAUBE, sondern was ich TUE, und wenn meine Religion kein echtes Mitgefühl mit allem Lebendigen zum Ausdruck bringt, dann ist sie nicht echt."

Gedanken am 11. Oktober (Weinmond)


Ich habe in Hugh und Gayle Prathers Buch für Paare eine kurze Passage gefunden, die mir seit dem als Richlinie zur Kultivierung der Tugend in Beziehungen dient: "Wird je eine Zeit kommen, da wir nicht mehr so hart an unserer Beziehung zu arbeiten haben werden? Nein, es wird eine Zeit kommen, da es kein Nachlassen in unseren Bemühungen geben wird. Es wird eine Zeit kommen, da es für uns unvorstellbar sein wird, einander nicht mit der ausgesuchtesten Freundlichkeit zu begegnen."

Sonntag, 9. Oktober 2016

Gedanken am 10. Oktober (Weinmond)


Ein Aspekt der Kultivierung der Tugend ist, wohlwollende Güte zum Hauptmotiv jeder Handlung zu machen. Zu diesem Zweck müssen wir jedoch Güte oder wahre Freundlichkeit von "Rechtmacherei" unterscheiden können. Solange wir nicht die Bescheidenheit und Selbstachtung entwickelt haben, die aus echter innerer Sicherheit erwachsen, laufen wir leicht Gefahr, Schuldgefühle zu verspüren, wenn es uns nicht gelingt, es den Leuten "recht zu machen" - und zwar selbst dann, wenn dieses Rechtmachen in irgendeiner Weise schädlich oder falsch wäre. Wohlwollende Güte ist die Haltung, die eine seelisch gesunde Mutter gegenüber ihrem Kind einnimmt und die aus ihrem uneigennützigen Wunsch erwächst, dessen bestes Potential zu fördern. Solch eine Mutter setzt natürlich Grenzen und spricht durchaus auch einmal ein Machtwort, aber stets mit der grössten Achtung und Liebe.

Gedanken am 9. Oktober (Weinmond)


Als ich noch im Krankenhaus arbeitete, wurde ich bisweilen von Patienten, die sich in einer kritischen Situation befanden, gefragt, was ich an ihrer Stelle tun würde. Meine Antwort war in der Regel immer die gleiche: "Ich weiss es nicht." Solange wir nicht in einer bestimmten Situation sind, ist es mitunter schwer zu entscheiden, wie wir uns verhalten würden, "wenn". Aber wir brauchen Richtlinien, nach denen wir unser Leben unter normalen Umständen orientieren und die uns in Krisensituationen als Entscheidungshilfe dienen können. Buddha bot drei Richtlinien an, mit denen wir uns schon das ganze Jahr über beschäftigt haben. Er empfahl, die Tugend zu kultivieren, nicht zu verletzen und den Geist zu zügeln.

Gedanken am 8. Oktober (Weinmond)


Jemand hat einmal gesagt, das Relative und das Absolute sind wie die zwei Schwingen eines Vogels, die jeweils den Schein und das Sein aller Dinge darstellen. Die zwei müssen einander im Gleichgewicht halten, oder der Vogel wird zu Boden stürzen. Der Tod hat Arjuna vor ein ethisches Dilemma gestellt. Es mag stimmen, dass wir in der absoluten Wirklichkeit "geburtlos und Todlos" sind, aber in der relativen Wirklichkeit bluten unsere Wunden, sterben wir und trauern wir um unsere Lieben. Was also soll ein Krieger tun?

Gedanken am 7. Oktober (Weinmond)


Die erzählerische Ausgangssituation der Bhagavadgita ist ein ethisches Dilemma, mit dem sich der Prinz Arjuna konfrontiert sieht: Die äusseren Umstände und seine Kriegspflicht zwingen ihn, eine mörderische Schlacht gegen Verwandte, Freunde und Lehrer auszufechten - sein Herz sträubte sich mit aller Kraft dagegen. Sein Wagenlenker, der niemand anders als der Gottmensch Krishna ist, sagt darauf zu ihm: "Weise klagen weder um Tote noch um Lebende. Niemals war ich nicht, noch du, noch diese Fürsten, noch werden wir alle in Zukunft jemals nicht sein. Ebenso wie das Selbst in diesem Leib Kindheit, Jugend und Alter erfährt, so begibt es sich nach dem Tode lediglich in einen anderen Körper. Daran wir der Weise nicht irre ... Gleich wie der Mensch abgenutzte Kleider ablegt und andere, neue anzieht, so legt das Selbst die abgenutzten Körper ab und geht in andere, neue ein" (Bhagavadgita II, 11-13, 22)

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Gedanken am 6. Oktober (Weinmond)


Das "Vertrautsein mit unserem Tod", wie Don Juan es nennt, konfrontiert uns zwangsläufig mit unseren Vorstellungen über die Seele. C. G. Jung schrieb in seiner Autobiographie, wir müssten einen Mythos über den Tod haben. "Der Mensch muss sich darüber ausweisen können, dass er sein möglichstes getan hat, sich eine Auffassung über das Leben nach dem Tode zu bilden oder sich ein Bild zu machen - und sei es mit dem Eingeständnis seiner Ohnmacht. Wer das nicht tut, hat etwas verloren." Obwohl Jung eine Reihe erstaunlicher Visionen und Träume über das Fortleben der Seele hatte, wies er immer wieder darauf hin, wir können nie Sicherheit über Dinge gewinnen, die, wie der Tod, unseren Verstand übersteigen. Die Vorstellung aber, die wir uns darüber machen, bestimmen in entscheidenden Masse, wie wir unser Leben führen.

Gedanken am 5. Oktober (Weinmond)


Der letzte Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, bevor ich nach der gestern erwähnten Sitzung mit AIDS- Kranken frontal gegen ein anderes Auto knallte, war: "Na ja, vielleicht habe ich so wenigstens eine Nahtoderfahrung". Ich hatte keine im technischen Sinn des Worte, wohl aber in dem Sinne, dass in dem Augenblick mein bisheriges, altes Leben endete. Nach einer Nasenoperation und ein paar Tagen im Krankenhaus wurde mir schlagartig bewusst, dass mir etliches an meinem Leben nicht gefiel. Und wenn jeder Augenblick unser letzter sein kann, warum dann Entscheidungen auf die lange Bank schieben? Schon wenige Monate später hatte ich meine Arbeit im Krankenhaus und meine Lehrtätigkeit aufgegeben.

Montag, 3. Oktober 2016

Gedanken am 4. Oktober (Weinmond)



Ende der 80er Jahre arbeitete ich mit einer Gruppe von AIDS- Kranken. Ich las Ihnen eine Textstelle aus "Eine andere Wirklichkeit" con Carlos Castaneda vor. Sein "Wohltäter" Don Juan, will ihm helfen, zu einem Krieger zu werden, einen Menschen, der achtsam, makellos und stark lebt. Wie er erklärt, "Muss ein Mann, um ein Krieger zu sein, in ersten Linie mit seinem Tod vertraut sein. Und das zu Recht." Als ich Don Juans Worte las, kam ich mir irgendwie verlogen vor. Schliesslich hatte ich kein AIDS und war nicht annähernd so direkt mit meinem Tod konfrontiert, wie diese Menschen. Also fügte ich etwas lahm dazu, für jeden sei die Stunde des Todes ungewiss. Schliesslich könne ich auf meinem Heimweg einen Autounfall haben. Was auch prompt geschah.

Sonntag, 2. Oktober 2016

Gedanken am 3. Oktober (Weinmond)


Ich bin schon immer gern mit Menschen zusammengewesen, die an der Schwelle des Todes stehen, weil viele von ihnen weit lebendiger sind als die Mehrzahl der Leute. Wer Krebs oder AIDS hat, "darf" sagen, was er wirklich denkt und empfindet. Er entdeckt in sich vielleicht bislang unbekannte Seelenkräfte. Das Leben erscheint kostbar und unmittelbar, wenn sein Ende in Sicht ist. Wenn es der letzte Frühling sein könnte, den du erlebst, sind die Blüten einer Azalee von einer fast schmerzhaften Schönheit. Wenn du den nächsten Geburtstag deines Kindes vielleicht nicht mehr erleben wirst, ist jede Minute, die du mit ihm verbringen kannst, ein kostbares Geschenk. Solche Dinge waren schon immer Geschenke, aber wenn wir ohne Bewusstsein des Todes dahinleben, fällt es uns schwer, die Schönheit und die Liebe wahrzunehmen, die uns jederzeit umgeben. Der Tod öffnet uns erst die Augen.

Samstag, 1. Oktober 2016

Gedanken am 2. Oktober (Weinmond)


Der Tod fasziniert uns als abstrakter Gedanke und stösst uns als konkreter Einzelfall ab. Das vorzeitige Ableben all jener Unglücklicher, die den Bränden, Kriegen und Schiessereien, die uns in den Abendnachrichten vorgeführt werden, zum Opfer fallen, erschüttert uns zutiefst. Aber abgesehen davon sind wir durchaus imstande, tagaus, tagein die Realität des Todes zur Kenntnis zu nehmen, ohne einen bewussten Gedanken daran zu verschwenden, dass der Engel des Todes einmal auch an unsere Tür klopfen wird. Es ist traurig, aber wahr. Und solange wir nicht erkennen, dass unsere Zeit auf Erden begrenzt ist, laufen wir allzuleicht Gefahr, die vielen Geschenke und Gelegenheiten des Lebens zu übersehen und in Selbstgefälligkeit oder die erschöpfende Unart des Selbstmitleids zu verfallen.

Gedanken am 1. Oktober (Weinmond)


In meiner Kindheit war der Herbst meine liebste Jahreszeit. Die Bäume kleideten sich äusserst elegant in rot-, Orange- und Goldtönen. Ihre von der kalten Luft und der zunehmenden Dunkelheit herbeigeführte Verwandlung erweckte in mir ein Gefühl des Geheimnisvollen, das, noch weiter verstärkt wurde durch die körperliche Wonne, die es mir bereitete, in die herabfallenden Blätter zu springen, mich in ihnen zu rollen und regelrecht einzugraben. Die schönsten Exemplare wurden zwischen Löschpapier gelegt und zwischen den Seiten eines dicken Lexikons gepresst. Das war ihre Gruft. Obwohl der Tod des Sommers unmittelbar bevorstand, schienen tief unter der Erde bereits die ersten Regungen des neuen Lebens spürbar zu werden.